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etwas stirbt

Etwas stirbt.

Wir können nicht unser gesamtes Leben auf den Kopf stellen und gleichzeitig an Allem festhalten.
An dem, was uns ausmacht. Oder an dem, was wir gewöhnt sind.

Etwas stirbt.

Vielleicht ist es dieses unterbewusste Wissen, was Menschen davon abhält, in die Veränderung zu gehen…?

Etwas stirbt.

Und das Gestorbene müssen wir hinter uns lassen.
Es ist wie die Schlange, die sich häutet.
Oder die Raupe, die als Schmetterling die Chrysalide verlässt. Dieser Teil des Selbst ist überflüssig geworden. Unnütz. Zeugnis einer vergangenen Zeit. Der Schmetterling nimmt seinen Kokon nicht mit in seine neue Identität.

Etwas stirbt.

Tiere begreifen das und lassen dieses Alte einfach zurück.
Nur der Mensch klammert.
Und hortet Spuren.

Ich musste mich früh auseinandersetzen mit Eindruck und Spur.

Im Theater erschaffen wir Eindrücke. Lange Jahre hatte ich Mühe mit dieser Tatsache. Wollte nicht nur ein Gefühl erschaffen und zurücklassen, um dann bestenfalls Erinnerung zu sein.

Ich wollte Spuren meiner Selbst.
Ich brauchte Spuren, aus Angst, sonst nicht zu existieren.
Die zurückgelassene Schlangenhaut ist solch eine Spur.  Sie ist konkret und greifbar.
Ich hielt mich an allem fest, was konkret und greifbar war. Ich klammerte mich an mein Material.

Ich wollte Spuren und lernte sogar ein Handwerk. So richtig, mit Gesellenbrief. Heute bin ich auch Tischler und kann mir meine Spuren selbst bauen. Bloss brauche ich sie seltsamerweise seither nicht mehr.

Ich mache selten das Naheliegende.

Vielleicht hätte ich Literatur studieren sollen, und Journalist werden. Ich schreibe seit meiner Kindheit gerne. Stattdessen lernte ich Bühnenarbeit.
Ich begann mit klassischem Gesang und entdeckte meine Stimme. Sie ist bis heute der rote Faden meines Lebens. Stimme und auch die Sprache. Doch ich ging drei Jahre auf eine Bewegungsschule und studierte verstummtes Körpertheater.
In mir lebte die Tragödie. Dort war ich zuhause. Und was lernte ich? Komik. Und zwar bis auf die Spitze getrieben. Ich wurde Narr.
Nach meinem Studium wollte ich mit der deutschen Sprache und Brechtliedern auf die Bühne. Und wohin zog ich? Nach Frankreich in die französische Sprache, in das Land, in dem bestimmt kaum jemand die deutsche Sprache spricht oder versteht.

Ja, ich mache selten das Naheliegende.

Auch, wenn ich mit Menschen arbeite. Ich schicke sie in ihre Randbereiche, dorthin, wo sie spontan gar nicht hinwollen. Ich lasse sie im Unbekannten suchen, ihre Fremde austesten und ihre Grenzen überschreiten.

Warum nur?

In einer zielorientierten und fokussierten Welt, in der man Menschen jeden Irrweg, jede « errance » abspricht, bin ich eine Ausserirdische.
Ehe wir auf ein Ziel zusteuern, sollten wir doch erstmal wissen, was in uns steckt. So denke ich.
Das Ziel erreichen wir dann durch Ausdehnung.

Ausdehnung…

Ich schaffe Spanne. Und Weite.
Ich schaffe Spannbreite.
Ich schaffe Raum.

Wenn der Raum sich dehnt, dann bricht die Hülse auf.
Es ist wie mit der Schlange. Die Haut passt nicht mehr.
Und so ist das mit Menschen. Wenn wir unseren Raum innerlich ausdehnen, wenn wir wachsen, an Grösse gewinnen, dann passt die Hülse nicht mehr, in der wir stecken.

Diese Hülse kann Vieles sein.
Manchmal ist es unser Beruf.
Manchmal unser privates Umfeld.
Manchmal unsere Lebensform.
Die Hülse bricht.

Der Mensch befindet sich im Aufbruch.

Etwas stirbt.
Und das gilt es, loszulassen.

« Loslassen? Ich dachte, du wärst damit schon durch…. », sagte mir eine Freundin vor Kurzem.
Ja, ich habe Vieles losgelassen.
Ganz konkret. Ich habe mein Material entsorgt und meine Spuren verwischt. Ich habe begriffen, dass ich heute keine Spuren mehr brauche. Heute genügt es mir, einen Eindruck zu hinterlassen.
Ich habe meine Wohnung aufgelöst und bin in einen Campervan gezogen. Ausgebaut habe ich ihn selbst, dafür lernte ich ja Tischler.
Ich habe vom gängigen Gesellschaftssystem Abstand genommen und lerne heute, anders zu leben.

Ja, ich habe viel losgelassen. Und doch denke ich, ich stehe noch ganz am Anfang.
Etwas stirbt.

Wir müssen lernen, dieses Sterben zuzulassen.

Wir müssen lernen, nicht gleich wieder das Neue zu erschaffen. Nicht gleich wieder zu füllen. Nicht zu ersetzen.

Etwas stirbt.
Es ist, wie durch den Tod zu gehen. Durch die Leere in uns und um uns.

Es geht darum, hinzunehmen, dass wir nicht wissen.

Weiss die Raupe um den Schmetterling, der in ihr schlummert? Ich glaube nicht. Sie weiss lediglich um den Weg, den sie zu gehen hat. Und sie ergreift ihn.

Wir Menschen aber denken den Weg.
Und erstarren.
Oder wir sträuben uns.

Ich arbeite für Menschen, die zum Aufbruch bereit sind.
Diesem Aufbruch, der der inneren Ausdehnung folgt.
Und auch dem Aufbruch zu einem neuen Leben.