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Ich habe meine innere Sophie zu Grabe getragen.

Gestern waren mein Mann und ich in einem typisch französischen Hypermarché. Das ist ein Riesensupermarkt, angesiedelt in Industriegebieten. Dort gibt es alles, von der Unterwäsche über Computer und Haushaltsgeräte zu Lebensmittel etc.

Ich brauchte eine Zeitschrift, um Collagenmaterial zu haben, und noch ein paar Malsachen. Die bekomme ich im Stadtzentrum nicht. Selbst in den „Tabac“, wo es normalerweise Zeitschriften gibt, werden jetzt Nahrungsmittel gehandelt. Logisch. Wer braucht jetzt noch Zeitschriften?

Es fehlten uns auch ein paar Lebensmittel und so entschlossen wir uns für den Konsumtempel.

Ich habe meine innere Sophie zu Grabe getragen.

Bereits auf dem mächtigen Parkplatz stand eine zum Teil maskierte Menschenschlange. Hinter Absperrungen wurden die Kunden zu einem einzigen Eingang gelotst. Zwischen jedem Kunden mit Einkaufswagen noch mindestens ein Meter Abstand. Da standen dann auch wir.

Mir war kalt. Ich hatte nicht bedacht, dass wir eventuell vor dem Hypermarché warten müssten.

Immer wenn eine bestimmte Menge an Kunden aus dem Konsumtempel strömte, durften die nächsten den heiligen Raum betreten.

Ich habe meine innere Sophie zu Grabe getragen.

Im Supermarkt selbst war es irgendwie normal und gleichzeitig auch überhaupt nicht normal.

Normal… Was ist heute normal?

Gleich am Eingang fand ich den Zeitschriftenständer. Ich kaufe sonst (normalerweise hahaha) nie Zeitschriften. Jetzt war ich einfach nur glücklich.

So müssen sich Kinder bei einem Besuch von Disneyland fühlen, dachte ich.

Pinsel. Papier. Nein, nicht online, sondern in echt, zum Anfassen. Klar, nicht dieselbe Auswahl wie im Künstlerhandel (ohgott, für einen Ausflug in ein Geschäft für Künstlerbedarf könnte ich gerade sterben… naja, ist ne übertriebene Lüge, eh klar), doch immerhin ein bisschen etwas. 

Ich war im Himmel.

Ich habe meine innere Sophie zu Grabe getragen.

Es war ruhig in den Gängen. Die Menschen schauten sich nicht direkt an. Ich hatte eher das Gefühl, jeder nahm den Raum wahr, der zwischen den Menschen war, da, wo noch genug Platz war, um aneinander unberührt vorbeigehen zu können.

Ich denke gerade, wie schwer das immer ist, wenn ich Menschen bei der Bühnenarbeit den Raum erkläre und wir üben. Raum. Raum lassen. Raum ins Gleichgewicht bringen. Abstand. Raumgefühl.

Jetzt weiss ich, beim nächsten Mal muss ich nur sagen „denkt an Corona“ und alles wird laufen wie am Schnürchen.

Ich habe meine innere Sophie zu Grabe getragen.

Unaufgeregt suchten wir unsere Lebensmittel zusammen. Nebenbei kam immer wieder die Durchsage, bitte nicht in den Gängen zu verweilen, sondern rasch weiterzuziehen. Und bitte nicht überflüssigerweise Lebensmittel berühren. Und bitte generell Abstand halten zur Sicherheit der Angestellten und auch zu unserer Sicherheit.

Ich dachte noch, wie friedlich doch alles wirkt, auch wenn ich hier und da Menschen sehe, die Masken tragen oder/und Handschuhe. Oder die sich hinter ihrem Schal verstecken.

Und gleichzeitig wurde mir in dieser Stille immer enger ums Herz und um die Lunge. Ich hatte das Gefühl, einen grossen gärenden Unwohlbollen in meinem Bauch zu tragen. Aufs Klo musste ich auch, was mir keine Hilfe war. Ich konzentrierte mich auf meinen Darmausgang, denn jetzt hier gleich wollte ich nicht auf die Toilette gehen. Dabei bin ich da sonst nicht zimperlich.

Ich habe meine innere Sophie zu Grabe getragen.

Dieser Unwohlbollen in meinem Bauch, dieser Druck auf meiner Brust, diese Zange um mein Herz… Das war meine innere Sophie. Sie starb mir unter den Händen weg.

Sophie.
Ich nenne sie jetzt einfach so.
Wie Sophie Scholl.
Denn seit Tagen geistert dieses Wesen in mir herum.

Oh klar, wenn ich Geschichten übers Dritte Reich lese oder mir Filme ansehe, dann identifiziere ich mich immer mit den mutigen Menschen, mit den Aufständischen, mit den Rebellen, die ihre Seele nicht verraten, egal zu welchem Preis.

Diese Helden. Denn ja klar, ich würde mich auflehnen. Ich habe mich schon immer aufgelehnt und nichts und niemand kann meine aufrechte Haltung brechen.

Ich glaube an die Freiheit.
Gleichheit ist für mich keine Worthülse.
Ich stehe für Eigenverantwortung.
Ich bin die Stimme der Unterdrückten.
Randgruppen werden bei mir immer wieder ins Zentrum gerückt.
Und ja, im Dritten Reich hätte ich Widerstand geleistet.

Ich habe meine innere Sophie zu Grabe getragen.

Das ist für mich der schlimmste und schwierigste Kampf, den ich in dieser unserer Gegenwart führe.
Denn auch ich füge mich.
Und ich weiss nicht, was richtig und falsch ist.

Verzweifelt sprach ich zu meiner inneren Sophie:
Bei euch damals war das Gute und das Böse doch so offensichtlich. Damals konnte man sich doch nicht irren.
Und ich habe heute nur meinen Bauch und der sagt mir etwas, was mit alledem da draussen nicht zusammenpasst. Dafür kann ich doch nicht einstehen, ist doch nur mein Bauch. Und draussen schmettern lauter Beweise und Gesetze auf mich nieder.

Sophie lächelte nur.

Was sollte sie auch sagen…
Geht es nicht immer darum, wenn wir uns aufrecht in unsere Wahrheit stellen? Um unseren Bauch?

Ich habe meine innere Sophie zu Grabe getragen.

Je länger wir im Tempel blieben, desto schlechter wurde mir. Auch mein Mann wollte nur noch raus.
Wir gingen zur Kasse mit unserem Einkaufswagen.
Ohne Klopapier übrigens.
Obwohl wir alle ziemliche Scheisser sind, reicht uns unser Klopapier weit länger als vor Corona. Wahrscheinlich gärt die Kacke in unserem Unwohlbollenbauch weiter. Bis wir dran verrecken.

So ist das beim Duckmäusern.
Da platzt die angesammelte Scheisse dann irgendwann gewaltsam aus dem Bauch raus, weil das kann doch im Grunde kein Mensch ertragen.
Oder doch?

Ich frage mich, wie es den anderen Menschen geht.
Bin nur ich so komisch?
Ich lese doch hier auf FB soviele, die genau wissen, was zu tun ist. Und wehe, jemand ist so blöd und denkt anders, dann hagelt es wild schwingende moralische Zeigefinger.

Und noch schlimmer, jetzt auf sein Bauchgefühl vertrauen, da gehört man doch zu der Rasse Mensch, die ausgerottet gehört! Expertenwissen bitteschön! Du hirnrissige Dumpfbacke bist doch eine Gefahr für die gesamte Menschheit! Wegen dir müssen jetzt all diese Leute sterben! Du veranwortungslose Drecksau, du!

Schau lieber mich an. Ich bin desinfiziert und rein. Mein Herz ist klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, auch kein Coronakeim.

Ich habe meine innere Sophie zu Grabe getragen.

An der Kasse sass die Kassiererin hinter einem Coronaschutzwall. Das ist eine gut drei Meter lange Plastikwand, durchsichtig, ca. zwei Meter hoch.
Die Dame trug eine Schildkappe und am Schild war nochmals ein durchsichtiges Plastikschutzschild befestigt.
Der Kunde vor uns trug Mundschutz und Plastikhandschuhe und sein inzwischen leerer Einkaufswagen stand wie eine Waffe zwischen uns.

Ich hätte mich eh nicht genähert. Ich bin bei sowas immer besonders respektvoll.
Klingt toll, gell?

Respektvoll… 

In Wirklichkeit aber trug ich meine innere Sophie zu Grabe.