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Die Sache und ihr Gegenteil.

Ich glaube nicht an Einseitigkeit.
In keiner Form. 
Es braucht immer die Sache und ihr Gegenteil, um ein Gleichgewicht zu schaffen. 
Das klingt einfach, offensichtlich, banal. Und doch ist es eine der schwierigsten Baustellen für Menschen.

Wenn ich mit Menschen arbeite, dann schaue ich, worauf sie Gewicht geben. Oder wo ihre Gewöhnung ist. Oder wie sie spontan reagieren.
Das geht in viele Ebenen, ich greife jetzt mal die Stimme raus. Sie ist konkret und unverfänglich.

Spricht ein Mensch immer in einer hohen Stimmlage, werde ich das Gegenteil suchen. Seine Tiefe. 
Spricht ein Mensch immer geschmeidig und sanft und getragen, werde ich das Gegenteil suchen. Den Rhythmus, den Saft und die Lebendigkeit.

Ich schicke den Menschen immer dorthin, wohin er selbst nicht geht, nicht gehen mag, glaubt nicht gehen zu können. Egal. 

Ich schicke ihn in sein Gegenteil.
Dadurch entsteht ein Raum. Ein Spannungsfeld. Eine neue Dimension. 

Wenn wir auf einer Seite sitzen bleiben, dann ist der Raum in und um uns klein und relativ unbeweglich. 
Wenn wir in das Gegenteil unserer Gewöhnung gehen, dann erweitert sich unser Raum schlagartig. Wir verlieren jede Orientierung, werden wach, Emotionen überwältigen uns, Leben strömt in uns.

Aus diesem Grund bin ich u.a. in den Van gezogen. 
Ich bin ein zurückgezogener Mensch. Ich kann mich ohne Schwierigkeiten in meiner Stube zurückziehen und wochenlang ohne konkreten menschlichen Kontakt auskommen. Ich bin weit lieber alleine als unter Menschen.

Der Van symbolisiert das Gegenteil meiner Gewöhnung. 
Reingehen in die Auseinandersetzung mit Menschen. Raus aus der Zurückgezogenheit. Immer draussen sein. Immer in Bewegung sein. Nie wissen, wo ich schlafen werde. Nie wissen, wo ich sein werde. Ständig mit fremden Menschen in Kontakt sein.

Was ich durch dieses Lebensexperiment über mich gelernt habe, ist unermesslich.

Die Sache und ihr Gegenteil.

Ich bin überzeugt von diesem Konzept. Ich erprobe es seit Jahren mit mir selbst. Und ich arbeite aus voller Überzeugung auf dieser Basis mit Menschen.

Ich werde immer stutzig, wenn ich Einseitigkeit erlebe. 
Egal auf welcher Ebene. 

Wenn ich Facebook als Beispiel nehme, so werde ich stutzig, wenn ich immer dieselbe gewohnte Seite eines Menschen präsentiert bekomme. Das ist oft (!) der Fall.

Das ist das, was ich Idee nenne. Oder was auch als Image bezeichnet werden kann.
Das Problem des Menschen liegt für mich darin, dass er sich Ideen macht. Über die Welt, aber auch über sich selbst. 

Genau das wird ja auch ertragbringend verkauft. 
Wie willst du sein? 
Lebe deine Träume! Lebe dein erträumtes Ich!

Und ja, es funktioniert. Logisch. Denn es haut ja volle Pulle in die Kerbe der Idee. Des Image. Der Fassade. In die Kerbe dessen, endlich das zu sein, was wir hoffen, dass wir sind.

Und ich erlebe bei Facebook genau dasselbe auch bei den Menschenarbeitern. Ich kann an einer Hand abzählen, wer sich nicht eindimensional zeigt. Eine Hand! Das ist verdammt wenig. Denn in meinem Netzwerk tummeln sich Menschenarbeiter.

Ich erlebe Menschen, die immer denselben einseitigen Diskurs pflegen. Die sich immer von ihrer vermeintlichen Schokoladenseite zeigen. Die eben selbst davon überzeugt sind, dass sie nur diese eine Sache sind. Und da stehen sie dann, relativ unbeweglich, und halten sich an dem kleinen gewohnten Raum fest.

Sie leben ihre Idee. 
Voll und ganz. 
Aber eben nur ihre Idee.
Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. 

Denn die Wirklichkeit braucht die Sache und ihr Gegenteil. 

Wirklichkeit ist ausgewogen. 
Wirklichkeit ist ein Gleichgewicht.
In meinem Menschenbild ist der Mensch alles. 
Alles zu sein, bedeutet, die Sache zu leben, aber eben auch ihr Gegenteil. 

Jedes Leiden, das ich bisher bei Menschen (mich eingeschlossen) erlebt habe, basiert darauf, dass das Gegenteil fehlt. 
Somit fehlt der Ausgleich. Und der Mensch lebt im Ungleichgewicht. 
Und das bringt alles durcheinander, logisch, oder?

Balanciert ein Seiltänzer mit Ungleichgewicht auf einem Seil, dann hat er reges Interesse daran, dieses Ungleichgewicht auszugleichen oder er stürzt ab.

Die Sache und ihr Gegenteil.

Deswegen funktioniert für mich u.a. der Licht-und-Liebe-Diskurs nicht. Er wird mir zu einseitig präsentiert. 
Um Liebe zu sein oder um Liebe leben zu können, muss ich nunmal die Sache UND ihr Gegenteil integrieren. 
Wenn ein Mensch nur auf eine Seite seiner selbst geht und darauf das ganze Gewicht legt, dann wird mein innerer Wicht wach. Denn – sorry, dass ich so frech bin – dann stimmt etwas nicht.

Ich erlebe auch oft Selbstliebe als Ausrede. 

Aaah, ich glaube, das ist die hinterfotzigste Ausrede überhaupt. (OHGOTT! Was schreibt die da wieder!!!)
Aber ja, ich sag das so und ich denke es.

Ich glaube, dass viele viele viele Menschen Selbstliebe mit Selbstbequemlichkeit verwechseln. Und das sind nunmal zwei paar Schuhe. 
Ich glaube, dass unter dem Siegel der Selbstliebe sehr viel Mist gebaut wird. Denn ja, oftmals ist das Argument der Selbstliebe lediglich ein Werkzeug des Mundtotmachens. Nicht aber wahrliche Selbstliebe. 

Denn ich glaube, dass es auch zur Selbstliebe die Sache UND ihr Gegenteil braucht.

Und deshalb, genau deshalb ist das die wohl schwierigste Baustelle des Menschen.