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leere

Das oft geneidete Künstlerparadies.

Gestern fragte mich ein Mensch, wie ich mit meiner Leere umgehe. Ich schrieb hier bereits, dass die Leere immer wieder Teil meines Lebens ist. Ich wage zu behaupten, eines jeden Lebens eines jeden Menschen, wenn da nicht Konsum und Hyperaktivität wären. 

Oder einfach das, was wir gemeinhin den ganz normalen Alltag nennen.

Leere.

Wie geil, nur machen, was man will. Der Herr seiner Agenda sein. Aufstehen, wann es einem passt. Und dann auch noch davon leben können. 
Paradies halt. 
Künstlerparadies.

Mmmm. 
Das, was Menschen derzeit im Kollektiv leben, ist mein Alltag. Ich habe Zeit. Unendlich viel Zeit. Zeit zum Wegschmeissen sozusagen. 
Mit Zeit umzugehen, ist mein täglicher Lernprozess. 
Täglich und seit Jahrzehnten.

Konzepte wie Entschleunigung und Zeitmanagement sind mir fremd. Wozu auch? Wozu entschleunigen, was eh schon gemächlich ist? Wozu managen, was im Überfluss da ist?

Ich habe nicht immer so gelebt. Ich hatte Jahre, in denen ich mich zu einer von Aussen strukturierten regelmässigen Arbeit entschieden hatte. Mal Gastronomie, mal Pflege, mal Sozialarbeit. Meine Agenda war voll, ich hatte kaum freie Zeit und doch waren es gleichzeitig meine entspanntesten Jahre.

Wie jetzt?

Jajaa. Natürlich hatte ich mehr Stress von Aussen und musste mich mit der Sinnhaftigkeit meines Tuns und mit der Haltung meiner Kollegen auseinandersetzen. 
Aber meine Tage waren gefüllt, ich wusste abends, wovon ich müde war und am Ende des Monats bekam ich mein Geld. Verantwortung hatte ich keine, ausser eben für meinen Arbeitsbereich. Risiko gleich null.

Viele Menschen träumen davon, soviel Zeit zu haben wie ich es habe. Doch dieses Träumen basiert meistens auf romantischen und illusionsgeschwängerten Vorstellungen.
Sich mal zehn Tage Auszeit nehmen aus einem sonst gefüllten Alltag ist lediglich eine Auszeit. Nicht Zeit. 

Auszeit hat eine ganz andere Qualität. Wir kommen gleich wieder ins Nutzendenken. Den Urlaub nutzen, um eigenes zu tun. Um Spass zu haben. Um sich zu erholen. Um um um. Das ist Nutzendenken.

Ich kann meine Zeit nicht nonstop nutzen. 
Ich nutze sie nicht. 
Ich lebe sie. 
Und manchmal sitze ich sie aus.

Die Idee, dann immer kreativ sein zu können, ist ebenso eine Illusion. Wie das mit Ideen eben so ist. 
Ich bin ja keine Produziermaschine. 
Nur weil ich Zeit habe, bin ich nicht ständig am Erschaffen. Das ist wieder Nutzendenken.

Zeit fordert mich heraus. 

Mein Mann ist strukturiert in seiner Disziplin. Das wird momentan auch überall geraten, jetzt in der kollektiven Auszeit. Um seinen Geist beieinander zu halten, solle man seinen Alltag strukturieren etc.

Meinem Mann entspricht das. Mit oder ohne Corona.
Mir nicht. Corona hin oder her.

Ich habe keine Alltagsdisziplin. Eher eine Projektdisziplin. Doch selbst da habe ich es aufgegeben, mich mit Zeitplänen und Deadlines zu strukturieren. 
Ich funktioniere einfach nicht so.

Zeit ist etwas, in dem ich meinen Platz finden muss. Immer wieder. 
Zeit bringt mich an meine Grenzen, auch immer wieder.

Und ich suche diese Grenzen. Ich brauche meine Auseinandersetzung mit ihnen, um meine Arbeit tun zu können. Damit meine ich meinen Ausdruck.

Zeit ist mein Wandeln zwischen Gärung und konkreter Umsetzung. Die konkrete Umsetzung hat ihre eigenen Herausforderungen, doch die sind wesentlich leichter, eben weil sie konkret sind.
Die Zeit der Gärung aber kann Hölle sein. 
Einfach weil ich dann nonstop unabgelenkt mir gegenüber stehe. 
Oh, ich finde, ich bin ein feiner Zeitgenosse, also ich kann gut mit mir leben. Trotzdem bleibt die Unabgelenktheit eine Herausforderung. 
Manchmal kotze ich mich auch einfach nur an. Und das hat nichts mit mangelnder Selbstliebe zu tun oder ungeklärten Neurosen. Es hat was mit Menschsein zu tun. Das ist nicht immer supergeil und lässig und ich weiss nicht was. 
Das ist auch mal langweilig, zäh, klebrig, ätzend, starr und düster.

So vielschichtig wie der Mensch eben.

Die Leere.

Heute haben viele Menschen viel Zeit. Und viele drehen durch. Daran sehen wir, wie schwer Zeit ist. 
Und jetzt sind es gerade mal vier Wochen. Vier läpprige Wochen!

Mein oftmals geneidetes Künstlerparadies hat natürlich seinen Preis. Auch das wird oftmals vergessen. 
Ich beziehe ja keine Rente.
Ich habe keine Sicherheit. 
Ich hatte noch nie eine, ausser in den Jahren der geregelten gesellschaftskonformen Arbeit.

Keine Sicherheit haben. 
Von der Hand in den Mund leben. 
Sich jeden Tag neu erfinden müssen, um sein Leben zu finanzieren. Und früher auch das Leben meiner Kinder.

Jetzt erleben viele Menschen Prekarität. Wieder im Kollektiv. Und wieder ticken viele aus. Ertrinken in Angst und Sorge. 
Ich lebe Prekarität. Schon immer. Sie gehört zu meinem Beruf. Und den wählte ich in jungen Jahren wegen der damit einhergehenden Lebenshaltung.

Ich jammere nicht und ich möchte nicht prahlen. Es geht mir nur darum, eine Illusion zu zerschellen.

Mit sich selbst ungefiltert und zeitlos konfrontiert zu sein und keinerlei Sicherheit zu haben – das ist momentan der Albtraum vieler Menschen. 
Es braucht viel Übung und Arbeit, um dieses Leben zu lernen. Und nicht verrückt zu werden.

Künstlerparadies?

Ja, ich lebe das Leben, das ich leben will. 
Mit all seinen Konsequenzen. 
So wie jede Entscheidung, die wir treffen, Konsequenzen nach sich zieht. 
Das dürfen wir nie vergessen. 

Oft wünschen wir uns etwas dazu zu dem, was wir haben. 

Wir haben beispielsweise die Sicherheit eines geregelten Einkommens und wollen dazu auch unendlich viel Zeit haben. 
Wir haben das eine und wünschen uns das andere dazu. 
Das ist menschlich. Und kindlich.

Denn in der Regel hat jede Entscheidung ihre Konsequenz. 
Und die Konsequenz ist der Preis.
Und dazu müssen wir bereit sein:
diesen Preis zu bezahlen.